Wenn nicht jetzt, wann dann? - Teil 3

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Train the brain, aber wie?

Zitat: „In Zukunft wird es aber vor allem um „train the brain“, also kognitives Training gehen: Spieler zu provozieren, sie im Training aus der Komfortzone zu holen, sie unter erschwerten Bedingungen trainieren und Entscheidungen auf engstem Raum unter Zeitdruck treffen zu lassen. - Ralf Rangnick, „Fußball-Professor“

DIE DEUTSCHE NACHWUCHSFÖRDERUNG BRAUCHT EIN GRUNDSÄTZLICHES UMDENKEN!

Als ich 1993 meine Trainerhospitation beim brasilianischen Profiverein Esporta Fortaleza antrat, war mein Ziel, viel Spaß zu haben und einiges über die brasilianische Spielerseele zu erfahren. Und natürlich auch: welche (geheimen) Quellen für Bewegungsfreude, Bewegungsfantasie, Improvisationskunst und Spielkreativität werden angezapft und wie zeigt sich das Ganze in der täglichen Nachwuchsarbeit? Um die brasilianische Fußballer-Seele zu beschreiben, müsste ich poetische Fähigkeiten besitzen, habe ich aber nicht. Deshalb bringe ich es lieber gleich auf dem Punkt: es schien mir unter den Spielern eine große Einigkeit zu herrschen, dass sie sich als Ball-Künstler verstanden und dass das Spiel immer „schön zu spielen sei“.

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Ich weiß, jetzt wo ich diese Zeilen schreibe, ist es Sonntag, der 10. Juli 2022. Dennoch erklärt diese Beschreibung noch heute sehr gut, warum wir heute in Deutschland das Luxusproblem haben, nur ganz wenige dieser „Ballkünstler“…wenn überhaupt ausgebildet zu haben. Luxusproblem? Ja, weil es in Deutschland nie wirklich auf der Ausbildungs-Agenda des DFB stand und wahrscheinlich auch nie stehen wird. Stattdessen haben wir Deutsche für uns die Spielintelligenz entdeckt. Damit konnten wir etwas anfangen. Intelligenz ist doch etwas typisch Deutsches. Wer heutzutage als Mannschaft über viele intelligente Spieler verfügt, besitzt eine hohe Wahrscheinlichkeit, auch erfolgreich Fußball zu spielen. Klingt doch wirklich vernünftig und vor allem so plausible. Ob sich dabei dann der Fußball von seiner schönsten Seite zeigt oder nicht, ist reine Nebensache. Mal kurz nachgehakt: Ist es denn nicht sogar wahrscheinlich, dass intelligenter Fußball auch gleichzeitig schöner Fußball ist? Ja, aber nur wenn die Spielintelligenz der Spieler auf einen kollektiven Rhythmus (Schwarmintelligenz) beruht und die Spieler mit kreativen Antworten jenseits des eigenen Systems autonome Entscheidungsfreiheit genießen dürfen. Du liest gerade etwas zum zweiten Mal, aber nur, weil es für unseren Fußball in Deutschland so wichtig ist. Und ich werde auch nicht müde, es ein drittes Mal zu Sprache zu bringen. Weil es einfach wichtig ist und weil es in unseren Fokus rücken muss. Ansonsten kommt es zu einer „Starre auf höchstem Niveau“. (Prof. Dr. Thomas Schack) Und genau dort befindet sich unser Fußball heute. Unsere Spieler sind gut – sehr gut technisch und taktisch ausgebildet. Ihre Körper gleichen Maschinen – mehr Athletik geht kaum noch. Und das Potential in Sachen Spielintelligenz wird auch immer besser und schneller ausgeschöpft. Und jetzt komm ich mit meinem ABER! Wir sind bereits in Deutschland an einem Punkt angelangt, wo die bloße Verbesserung der kognitiven Leistungen bei der Weiterentwicklung von Spielern nicht mehr zielführend ist. Einfach immer mehr kognitives (wenn auch qualitativ gutes) Training, bedeutet nicht automatisch eine Verbesserung der Fähigkeiten und Fertigkeiten oder einen spürbaren Mehrwert. Und ich bin mir ziemlich sicher, auch die Verantwortlichen im Bereich der Trainerausbildung beim DFB ahnen bereits: Wir brauchen keine Gehirnakrobaten im Fußball. Was wir brauchen sind polyvalente und kreative Spieler. Und da sind wir wieder beim Ball-Künstler gelandet. Meine Idee hierzu lautet fast schon revolutionär: wir sollten in Deutschland hinsichtlich der Talentförderung nicht mehr viel Energien einsetzen, um die alte Art von Spielern nochmals ein Stückchen zu verbessern, sondern wir sollten uns die Freiheit nehmen, gleich eine neue Spielergeneration zu entwickeln. Dazu gehört der Wille zum Neu- und Umdenken, eine große Menge an Enthusiasmus und Geld für die Ausbildung unserer Trainer. Große Menge an Enthusiasmus? Ja, genau. Nur der Enthusiasmus mobilisiert ungeahnte Kräfte und Energien, die wir dringend benötigen, um den Rückstand zur Weltspitze wieder aufzuholen und um selbst wieder die Nummer Eins zu werden. Wir verstehen uns richtig. Das sollte der Anspruch vom DFB sein. Dass sollte Dein und mein Anspruch sein. Nicht mehr und nicht weniger! Und wir alle (also auch DU) können dabei kräftig mithelfen.

Fußball und sein Milliardengeschäft

Aufgrund internationaler Milliardeninvestoren geraten gerade deutsche Vereine extrem unter Druck, denn die 50+1 Regel begrenzt nur in Deutschland den Einfluss externer Investoren. Vor Erscheinungstermins dieses Artikels hat der ehemalige Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, Karl-Heinz Rummenigge in dem Podcast „TOMorrow und Bayern-Boss Oliver Kahn im Kicker die 50+1-Regel entsprechend infrage gestellt. Herr Rummenigge zweifelt an einer zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bundesliga, wenn sich auf diesem Gebiet nicht schnellstmöglich etwas ändern würde. Und so wie Herr Rummenigge und Herr Kahn sich geäußert haben, denken viele Verantwortungsträger in den deutschen Profivereinen. Aber längst nicht alle: Dortmund-Boss Watzke sagte der "Sport Bild": "Wir als Liga müssen den Menschen in Europa und der ganzen Welt vor allem klarmachen: Die Bundesliga ist politisch korrekt und sauber. Und sie entwickelt definitiv die meisten jungen Spieler, hat die weitaus günstigsten Eintrittskarten, setzt auf Nachhaltigkeits-Themen."

Die Bundesliga ist politisch korrekt und sauber? Wer´s glaubt, wird selig!

Quo Vadis, deutscher Profifußball!? Fast alle Vereine sind nach wie vor durch die Coronakrise mit dem Überlebenskampf beschäftigt und dennoch braucht es schon lieber gestern als heute ein Ziel und eine Strategie für den deutschen Fußball der Zukunft. Und gerade hierbei liegen das Konzept der „Taskforce Zukunft Profifußball" der DFL und das Konzept „Zukunft Profifußball“ von den organisierten Fans meilenweit auseinander. Als wenn dies alles nicht schon allein ausreichen würde, um Zukunftsängste für den deutschen Fußball zu schüren, gibt es noch ein übergeordnetes Problem zu lösen. Unsere Jugend verliert immer mehr die Lust am Fußballspielen. Gerade die Pandemie hat gezeigt: spätestens jetzt erobern die digitale Player die deutschen Kinderzimmer…und die Teilnehmerzahl steigt täglich rasant weiter. Es genügt ein Blick auf die Plattform von Sorare, um die Frage nach dem Warum zu beantworten. Die Idee klingt zeitgemäß: „Wir machen Fantasy-Fußball möglich“, sagt einer der Gründer und verspricht seinen Investoren: „Wir bauen einen Entertainmentgiganten.“ (beide Aussagen, Quelle: Manager Magazin). Das Eintauchen in diese „zweite Welt“ kann einer der Kippelemente für den Fortbestand des realen Fußballs sein. Wie schnell solch eine „Zeitenwende“ gehen kann, wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Nehmen wir mal nur allein unser Smartphone. Kannst DU noch heute ohne dein Smartphone sein? Schon ein Tag ohne dein Smartphone ist ein verlorener Tag, stimmt’s? Und selbst wenn DU auf dein Smartphone größtenteils verzichten könntest… bitte ganz ruhig bleiben…nur mal angenommen…DU wärest tatsächlich nirgendwo mehr so richtig dabei. DU wärest im besten Falle quasi ein Sonderling, im schlechtesten Falle eine Art von Querdenker. Und für dieses Du & Dein Smartphone – Lebensgefühl brauchte es lediglich 15 Jahre.

Vielleicht schauen wir auch einfach nicht richtig hin

Wer dann noch um die verbliebenen Bewegungstalente buhlt, sind weniger die „deutschen Mannschaftssportarten“, sondern die NFL aus Amerika. Denn es ist jetzt ganz offiziell: Zum ersten Mal überhaupt findet in Deutschland ein reguläres NFL-Saisonspiel statt. In der Münchner Allianz Arena trafen am 13. November 2022 dann die Tampa Bay auf die Seattle Seahawks. Man bedenke, die NFL ist die mit Abstand umsatzstärkste Sport-Liga der Welt, weit vor der britischen Premier League. Wir können also davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren das amerikanische Power-Marketing gerade in Deutschland zuschlagen wird. Doch schon jetzt steigen die Zahlen deutscher Fans rasant an. Mit dabei immer mehr Jungs im besten Fußball-Lernalter. Und hat NFL-Profi Jakob Johnson in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung nicht recht, wenn er sagt: "Wenn es Ihnen auf Dauer Spaß macht, jedes Jahr dabei zuzusehen, wie Bayern München Deutscher Meister wird, bitte schön. Für mich ist das nichts. Ich finde, da bietet die NFL ein deutlich besseres Produkt". Und mal ganz offen: könnte nicht tatsächlich der zweite, tiefere Blick zu der NFL für unseren deutschen Fußball eine Reihe neuer Chancen beinhalten? Die Deckelung des Gehaltsgefüges, Vorgriffsrechte für schwächere Mannschaften bei der Verpflichtung von Talenten und Playoffs. Verstehen wir uns richtig. Ich bin kein Fußball-Romantiker, der behauptet, dass das viele Geld den Fußballsport kaputt macht, sondern ein Fußball-Liebhaber, der sich insgesamt eine klügere Diskussion wünscht, wenn es mal wieder um höhere TV-Gelder, Sponsorenverträge und wenn es um die 50 + 1 Regelung geht. Auf jeden Fall brauchen die deutschen Ligen ein gesundes und gutes Wachstum. Gutes Wachstum? Ja, gutes Wachstum ist messbar in Form von einem gesunden Mix aus internationalen Weltklasse-Spielern und jungen deutschen polyvalenten Spielern, die gemeinsam unsere Bundesliga tiefergelegt attraktiv und unsere Nationalmannschaften wieder erfolgreich machen. Und genau hierfür braucht es jetzt Investitionen & Investoren und eine langfristige Strategie. Investitionen für den Kinderfußball und für die Nachwuchsförderung gleichermaßen und das heißt auch in die Ausbildung unser Trainer/innen. (schon vergessen?) Investoren, die sich ein zu definierendes Werte-System verpflichtet fühlen. Langfristig strategisch handeln heißt auch: Deutschland braucht ein neues Schulsystem. Erst durch die bestmögliche Vernetzung zwischen Schule und Sport lassen sich meiner Ansicht nach, am schnellsten und am nachhaltigsten Wettbewerbsvorteile erzielen.

Jetzt im Frühjahr 2022 sahen wir überall volle Stadien mit einer unglaublichen Atmosphäre im Gänsehaut-Modus. Und dann noch die Erfolgsgeschichte der Eintracht aus Frankfurt. Der Auftritt in Barcelona, das Heimspiel gegen West Ham United. Fußball-Herz, was willst Du mehr? Was auf dem ersten Blick nach heiler Fußball-Welt in Deutschland ausschaut, ist vielleicht nur dem Augenblick geschuldet gewesen. Wir, Du und Ich sind soziale Wesen. Ist es nicht eher so, wie es Professor Thomas Alkemeyer (Leiter der Uni Oldenburg / Arbeitsbereich Soziologie und Sportsoziologie) formulierte, „eine Sehnsucht nach Normalität“ die uns in die Stadien treibt. Wir alle sind mehr oder weniger der Corona Krise leid. Wir wollen rausgehen, wir wollen unser vorheriges Leben wiederentdecken und neu erleben. Dennoch die Entfremdung zwischen dem Fußball und seiner Basis war schon vor der Corona-Krise deutlich wahrzunehmen. Auch in meinem persönlichen Umfeld kann ich es an vielen Stellen ausmachen und ja, auch bei mir selbst. Ich war seit Kindertagen Fan der deutschen Nationalmannschaft. Für ein deutsches Länderspiel habe ich alles liegen und stehen gelassen. Und ich war auch öfter im Stadion, wenn die deutsche Nationalmannschaft im Ruhrgebiet ihre Spiele austrug. Bei der WM 2018 fing es aber an, dass „die Mannschaft“, nicht mehr meine Mannschaft war, und dass hatte nicht nur sportliche Gründe.

Wie schafft der Fußball wieder eine Verbindung zu seiner Basis?

Der Profifußball erhält quasi durch die Corona-Krise eine neue und vielleicht letzte Chance, der globale „soziale Klebstoff“ zu werden, weil er die Menschen Wochenende für Wochenende zusammenbringt und wir uns dabei erfreuen dürfen, dass Fußball nach wie vor die schönste Nebensache der Welt ist. Nutzen wir diese durch eine hohe Transparenz! Dabei sollte uns klar sein, dass nicht nur weltweit eine Corona-Pandemie wütet und wir weiterhin ungebremst auf eine Klimakatastrophe zusteuern, sondern auch mitten in Europa ein entsetzlicher Krieg tobt, dessen Ende und Wirkungen wir nicht einzuschätzen wissen. Ob wir wollen oder nicht, wir leben in einer Ära der vorhersehbaren Unvorhersehbarkeit.

Ich schrieb bereits im ersten Teil meines Artikels, dass wir im deutschen Fußball viel Mut brauchen und keine faulen Kompromisse, wenn wir wieder zur Weltspitze zurückkehren wollen. Jetzt am Ende meiner Ausführungen, weiß Du, was ich mit -viel Mut- gemeint habe: Runter mit unseren vielen Gewohnheitsbrillen als Verband/Verein/Trainer für neue Chancen in der Talentförderung und Abschaffung der 50 + 1-Regelung für mehr Chancengleichheit im Wettbewerb auf internationaler Ebene.